Awdijiwka

Die zerstörte Stadt Awdijiwka nach Einnahme durch Russland

Nach knapp 40.000 bearbeiteten Todesnachrichten, dem Lesen unzähliger Kommentare in den russischen sozialen Medien, meinen wir, dass wir einen fundierten Einblick in das Denken der Menschen Russlands zum Krieg gegen die Ukraine haben. Trotz hoher Verluste an Menschen, trotz Einschränkungen in der Verfügbarkeit von Produkten und Dienstleistungen, kann man keine weitverbreitete Kriegsmüdigkeit in Russland erkennen. Viele Menschen formulieren die Parole – jetzt erst recht, Russland muss gewinnen.
Wir meinen, die Ukraine kann den Krieg nicht militärisch gewinnen, aber falls das Land die Angriffe Russlands durchstehen kann, ergeben sich Chancen aus der schwachen Wirtschaftskraft Russlands.

Friedensbewegung zum Schweigen gebracht

Zum Kriegsbeginn gab es in allen Regionen Russlands deutlich erkennbare Proteste. Auch viele lokale Medien ließen durchblicken, dass sie mit dem Krieg gegen die Ukraine nicht einverstanden sind und legten die zahlreichen Ungereimtheiten und Lügen der russischen Propaganda offen. Wir haben Teile davon zu Beginn des Krieges dokumentiert. All diese öffentlichen Proteste sind so gut wie verstummt. Die Kriegsgegner wurden mit harten Strafen zum Schweigen gebracht, andere sind ins Ausland geflüchtet oder haben sich in die innere Emigration zurückgezogen. Kriegsgegner haben in Russland keine Stimme – nirgendwo.

Militarisierung der russischen Gesellschaft

Dagegen finden wir die Unterstützer des Krieges quer durch alle Bevölkerungsschichten. Russlands Gesellschaft ist völlig militarisiert. Selbst Grundschulkinder sitzen schon manchmal in Uniformen im Klassenzimmer, das Militär ist fester Bestandteil des schulischen Alltags.
In ganz Russland gibt es unzählige Initiativen zur Unterstützung des Militärs. Frauen weben Tarnnetze, sammeln Spenden für Drohnen, Schutzwesten oder warmer Winterbekleidung für ihre Soldaten an der Front.
Auch bei den Menschen mit einer gehobenen Bildung finden wir häufig ein stark revisionistisches Weltbild. Sie sehen den Untergang der Sowjetunion als Niederlage Russlands, die es auszumerzen gilt. Russland soll wieder eine gewichtige Rolle in der Weltpolitik spielen und in Europa sowieso.

Kein Frieden aus Russland in Sicht

Daraus folgt, dass Russland den Krieg so lange weiterführen wird, bis seine Kriegsziele erreicht sind – nämlich die Auslöschung oder Unterwerfung der Ukraine. Ein Waffenstillstand wäre möglich, würde aber Russland die Möglichkeit geben, sich militärisch und wirtschaftlich zu regenerieren, um dann den Konflikt weiter zu führen.

Weitere Unterstützung der Ukraine aus dem Westen oder Niederlage

Falls die Ukraine mit Waffenlieferungen aus dem Westen in die Lage versetzt wird, sich gegen Russland ausreichend zu verteidigen und nur dann, könnte an der Front so etwas wie eine Pattsituation entstehen. Mal rückt die Ukraine etwas vor, mal Russland, aber große Geländegewinne einer der Parteien würden wohl kaum eintreten. Das könnte die kriegsentscheidende Chance für die Ukraine werden.

Aus einem Patt einen Sieg machen

Russlands Wirtschaftskraft kann auf Dauer gegen den vereinten Westen nicht bestehen. Im Moment finanziert das Land den Krieg aus angesparten Finanzreserven. Und verschafft dem Land damit einen Wirtschaftsboom in großem Stil. Die Industrieproduktion brummt, denn der Krieg erfordert Nachschub an Waffen, Munition und allem, was das Militär zur Versorgung benötigt.

In den armen Regionen Russlands sorgt der Krieg ebenfalls für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die hohen Gehälter für die Soldaten an der Front, die noch höheren Abfindungen bei Verletzungen oder Tod spülen sehr viel Geld in die abgelegenen Regionen Russlands.

Doch die finanziellen Ressourcen Russlands schwinden schnell dahin und können auf Grund der Sanktionen nicht ausreichend durch höhere Exporte an Gas, Erdöl oder anderen Rohstoffen ausgeglichen werden. So nähert sich Russland langsam aber sicher der Situation der Sowjetunion, die aus ökonomischen Gründen auseinandergefallen ist.

Wenn der Westen sich auf eine weitere dauerhafte und nachhaltige Unterstützung der Ukraine sowohl in militärischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht einlässt, nicht auf kurzfristige zweifelhafte Erfolge aus ist, dann wäre das der Weg, wie dieser verachtenswerte Krieg zu einem befriedigenden Ende gebracht werden könnte: Die Herstellung der Grenzen der Ukraine wie vor 2014, aber ohne eine militärische Niederlage Russlands.