Er saß im Gymnasium ein Reihe vor mir, war der Kaspar vom Dienst und hatte bereits eine unrühmliche Karriere quer durch alle Gymnasien im schwäbischen Reutlingen hinter sich gebracht. Seine Eltern gehörten zur Kaste der Unternehmensmillionäre und versuchten mit viel Geld und guten Worten ihrem Filius den Weg zum Abitur zu bahnen. Unsere Klassengemeinschaft war ein wilder Haufen, kaum durch die Lehrerschaft zu bändigen, aber dieser Hugo übertraf alles. Während wir als 15jährige Schwachsinnige uns in den Pausen wilde Schlachten mit Wasserpistolen lieferten, brachte Hugo regelmäßig eine echte Knarre in die Schule mit. Und vor der versammelten Klasse zeigte er, wie man mit dem Revolver umgeht, wie man ihn durchlädt und welche Durchschlagskraft verschiedene Patronen so haben.

Das Klassenzimmer hatten wir mal wieder ordentlich unter Wasser gesetzt, die kommende Geographiestunde nahm sowieso niemand ernst. Unser Pauker begutachtete den Wasserschaden, zuckte resignierend mit den Schultern und begann mit dem Unterricht. Hugo raschelte mit den Händen unter der Tischplatte, das störte. Mit einer schnellen Bewegung bückte sich der Lehrer, schaute unter den Tisch und entdeckte Hugos Hände, die mit der Knarre spielten. Er wurde laut: „Gib sofort die Wasserpistole her“ und fasste unter den Tisch. Doch Hugo war schneller. Er war aufgesprungen, ein paar Schritte zurückgewichen, hielt seien Waffe locker an der Hüfte, lud eine Patrone in den Lauf und erklärte cool: „Von Ihnen lasse ich mich nicht entwaffnen!“

Jetzt erkannte auch der Geographiepauker seinen Irrtum. Er wurde aschfahl im Gesicht und verlies wortlos das Klassenzimmer. In dieser Stunde tat sich nichts mehr, wir alle saßen ruhig auf unseren Stühlen und harrten der Dinge die da kommen sollten. Auch in der nächsten Stunde erschien zuerst kein Lehrer, die Sache wurde lächerlich. Wie konnte das gesamte Kollegium so feige sein und sich vom Kaspar Hugo einschüchtern lassen. Derweilst sonnte sich Hugo in seinem Ruhm und erzählte jedem, der es hören wollte oder nicht, dass er es jetzt aber mal richtig einem Pauker gezeigt hätte. Denn schließlich habe keiner das Recht ihn zu entwaffnen.

Nach einer langen Wartezeit wurde unser Religionslehrer als Unterhändler in die Klasse geschickt, um die Situation auszuloten. Dem gelang es mit ein paar Sätzen Hugo zur Herausgabe der Waffe zu überreden. Wir alle wurden nach Hause geschickt, damit war die Episode zu Ende.

Der Vorgang ist lange her, spielte Anfang der siebziger Jahre in einer gutbürgerlichen Umgebung. Damals wurde von der Sache kein großes Aufheben gemacht, Hugo flog wieder mal von der Schule. Die Eltern bekamen Stress mit dem Jugendamt. Weiter ist nichts passiert und auch in der Zeitung stand nichts darüber. Heute würde alles ganz anders ablaufen. Die Lehrerschaft würde die Polizei alarmieren, diese würde mit einem Sondereinsatzkommando mit Spezialwaffen und schusssicheren Westen anmarschieren, die Medien wären mit Übertragungswagen life dabei. Das ist die eine Seite. Und auf der anderen Seite würde vielleicht ein junger Dummkopf stehen, der vom Spiel am Computer mit Quake, Counterstrike, Unreal Tournament oder Wolfenstein eine ganz andere Vorstellung von der Macht der Waffe in der Hand hat. Er ist der finale Terminator, der keine Angst kennt und der ausgestattet mit mächtigen Waffen und starker Lebenskraft hinauszieht, um sich die Welt untertan zu machen und den Medien zu zeigen, was für ein toller Fighter er ist.

Will sagen – nicht das Gewaltpotential unter jungen Leuten hat sich seither geändert. Persönlich habe ich eher den Eindruck, dass die heutigen Teens selbst hier in Frankfurt erwachsener agieren, als meine Generation zur damaligen Zeit. Aber neu sind die Allmachtsphantasien , die die heutige Computergeneration überkommt, wenn man am Bildschirm im Alleingang Planeten vom Übel befreit oder sich in zahllosen Duellen als der gnadenloseste Fighter bewährt. Und sehr viel größer ist auch das Medieninteresse geworden. Extreme Reaktionen von Kids rufen ein riesiges Medieninteresse hervor. Man wird zum Megastar für kurze Zeit, etwas was andere in ihrem ganzen Leben nie erreichen werden.

Das ist auch der Grund warum ich angesichts des tragischen Vorfalls in Erfurt hier in den BoardNachrichten etwas darüber schreibe. Im Netz und auf den Boards tummeln sich Legionen von Hardcore-Dattlern, die virtuell schon ganze Heerscharen von Gegner gnadenlos niedergemäht haben. Wir wissen – alles ist ein Spiel, eine Fiktion, ein Traum, ein virtuelles Erlebnis. Und seit gestern wurde uns erneut klar – manchmal wird für junge Leute diese virtuelle Welt zur Realität. Grund genug unsere Einstellung zu diesen gewalttätigen Spielen zu überdenken.